Dörthe Binkert über die Entstehungsgeschichte von ›Vergiss kein einziges Wort‹

Im Jahr 2014 fuhr ich wegen eines anderen Buchprojekts zum ersten Mal nach Schlesien – heute ein Teil Polens. In diesem Zusammenhang besuchte ich auch das Archiv von Gleiwitz (Gliwice). Dieses Archiv, das den 2. Weltkrieg unbeschadet überstanden und seinen Schatz an Dokumenten über alle Wirren der Zeit hinweg bewahrt hat, hat mich ungemein beeindruckt. So entstand die Idee, ein Buch über Schlesien zu schreiben, das eine größere Zeitspanne und mehr als nur eine Lebensgeschichte umfasst: Ein vielstimmiges Epos schlesischen Lebens von Beginn der schlesischen Teilung 1921/22 bis fast ins 21. Jahrhundert hinein stand mir vor Augen.

Ein Familienroman, der mit der Geburt der kleinen Luise Strebel im damals deutschen Gleiwitz beginnt und mit dem Besuch der 83jährigen Luise im polnischen Gliwice 2004 endet. Deutsche, polnische und jüdische Schicksale sollten in diesem großen Familienroman Platz finden – wie es der Region entspricht.

Gleiwitz ist ein geschichtsträchtiger Ort – dort begann der 2. Weltkrieg, dort lässt sich aber auch das Leben einer Grenzregion nachzeichnen, in der seit Jahrhunderten Deutsche, Polen, Juden und auch Tschechen zusammenlebten, bis Nationalismus und Hasspropaganda die Menschen zu Todfeinden machte. Es ist ein Ort, der darum auch von Krieg, Flucht und Vertreibung erzählt.

Nach Ende des 2. Weltkrieges, den Deutschland mit dem Überfall auf Polen entfesselt hatte, wurden nicht nur Millionen deutschstämmiger Schlesier nach Westen vertrieben, es wurden auch mehr als eine Million Polen dorthin vertrieben – aus Ostpolen, das an die Sowjetunion fiel. Auch davon und vom Leben der im polnischen Schlesien verbliebenen Deutschen wollte ich erzählen.

Ich selbst habe keine schlesischen Wurzeln, aber die Flüchtlingsthematik ist mir nicht fremd: meine Familie mütterlicherseits ist 1945 aus Ostpreussen geflohen.

Für den vorliegenden Roman habe ich Gleiwitz in polnisch sprechender Begleitung mehrfach besucht. So konnte ich Gespräche mit Polen führen, die selbst noch Zeitzeugen der damaligen Umsiedlungen sind. Und ich habe mich mit deutschstämmigen Schlesiern getroffen, zum Teil auch mit solchen, die als deutsche Kinder im polnisch gewordenen Gleiwitz aufgewachsen und erst später in die Bundesrepublik emigriert sind.

Neben den Gesprächen habe ich natürlich viel recherchiert, wenngleich ich keine Historikerin bin. Doch erhält der Roman seine Authentizität durch die Offenheit, mit der mir die Befragten Zugang zu ihren Erinnerungen gewährt haben. Auf ihren Erzählungen baut der Roman auf, doch sind die Romanfiguren und der Gesamtzusammenhang des Romans frei erfunden.

In Zeiten eines wiedererstarkenden Nationalismus in ganz Europa hat die Geschichte Schlesiens grosse Aktualität. Sie zeigt, dass ein Nationalismus, der Feindbilder aufbaut und alles „Fremde“ rigoros ausschliessen will, in letzter Konsequenz zu Krieg und Zerstörung, Flucht und Vertreibung führt – auch für das eigene Land, das der Nationalismus doch vor allem Übel bewahren wollte. Die Geschichte Schlesiens zeigt aber auch, dass ein wenn nicht konfliktfreies, so doch letztlich friedliches Zusammenleben unterschiedlichster Menschen und Ethnien gelingen kann.

Dörthe Binkert