Interview mit Dörthe Binkert zu ›Vergiss kein einziges Wort‹

Heute erscheint der große Schlesien-Roman ›Vergiss kein einziges Wort‹ von Dörthe Binkert. In den Geschichten von drei Frauen im schlesischen Gleiwitz spiegelt sich die Geschichte einer Grenzregion und von Heimat, Flucht und Vertreibung wider. Dörthe Binkert spannt im Roman gekonnt den großen Bogen von den 20er- bis zu den ausgehenden 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Interview erzählt die Autorin, wie dieser besondere Roman entstanden ist und wieso seine Geschichte historisch und trotzdem brandaktuell ist.

Worum geht es in Ihrem neuen Roman ›Vergiss kein einziges Wort‹ in einem Satz?
Es geht um die Geschichte einer schlesischen Familie, die von starken Frauen getragen wird, und um die dramatische und wechselhafte Geschichte (Ober)Schlesiens im 20. Jahrhundert.

Was hat Sie dazu inspiriert, so tief in die Geschichte Schlesiens einzutauchen?
Meine erste Reise nach Schlesien, bei der ich auch das Stadtarchiv von Gleiwitz, heute Gliwice, besuchte. In diesem Archiv, wo polnische Archivare auch die vielen Dokumente aus der deutschen Zeit Schlesiens hüten und bewahren, wehte mich etwas vom »Hauch der Geschichte« an, die Schlesien geprägt hat.

Entstanden ist ein opulenter Roman, der drei Epochen umspannt. Wie lange haben Sie daran geschrieben?
Recherche und Schreiben gingen Hand in Hand. Ein Jahr diente nur der Vorrecherche, drei Jahre lang habe ich geschrieben und gleichzeitig im Detail weiterrecherchiert.

Was haben Sie bei der Recherche in Schlesien erlebt?
Ich bin mehrmals mit einer in Gleiwitz aufgewachsenen Freundin nach Gleiwitz gefahren. Übrigens auch in den Osten Polens und nach Lemberg und Buczacz in der Ukraine, weil diese Orte im Roman eine Rolle spielen. Da meine Begleiterin dolmetschen konnte, war es möglich, auch mit Polinnen und Polen zu sprechen, die als Kind noch Zeitzeugen der Zeit um 1945 waren. Die Aufnahme war ausgesprochen herzlich und offen. Viele der Erzählungen haben mich sehr bewegt. Genauso wie die Gespräche, die ich hier im Westen mit Menschen führen konnte, die 1945 aus Schlesien geflohen waren oder aber als deutsche Kinder im polnisch gewordenen Gleiwitz aufgewachsen sind.Auf beiden Seiten herrschte ein sehr versöhnlicher Ton, zum Teil gibt es auch weiterhin Freundschaften mit den heutigen, polnischen Einwohnern von Gleiwitz. Das hat mich sehr beeindruckt und gefreut.

Haben Sie eine Lieblingsfigur im Roman?
Die Frage ist schwer zu beantworten. Es ist ein figurenreicher Roman, neben der Geschichte der Familie Strebel, die sich durch das ganze Buch zieht, gibt es zwei weitere Familien, die von starken Frauen durch schwere Zeiten hindurchgerettet werden. Diese Frauen sind sehr unterschiedlich, aber ich mag sie alle, gerade in ihrer Unterschiedlichkeit. Die stille Klara Strebel habe ich vielleicht besonders ins Herz geschlossen. Für die anderen Figuren im Roman läuft sie ziemlich unbeachtet so nebenher mit; sie entwickelt sich zu einer starken Persönlichkeit, ohne viel Förderung und Anteilnahme von anderen zu erfahren.

Würden Sie Ihren Roman als historisch bezeichnen oder sehen Sie einen Bezug zur Gegenwart?
Der Roman behandelt die jüngere Zeitgeschichte – die Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit im polnisch gewordenen Schlesien. In gewisser Weise ist es also ein »historischer« Roman. Ich lasse ihn fast nur in Gleiwitz spielen, weil man an diesem Ort, wo der 2. Weltkrieg begann, fast wie unter einem Brennglas die Ereignisse der damaligen Zeit in verdichteter Form betrachten kann. Gleichzeitig ist die Geschichte Schlesiens ziemlich aktuell, z.B. wenn man an das Thema Flüchtlinge denkt. Allein mehrere Millionen Schlesier sind bei Ende des 2. Weltkrieges geflohen oder wurden vertrieben und ausgesiedelt; die Integration von insgesamt 12 Millionen Flüchtlingen aus dem Osten gelang, aber durchaus nicht über Nacht und ohne Probleme. Das sollte man sich auch heute vor Augen halten: Integration braucht Zeit, oft mehrere Generationen. Die Geschichte Schlesiens erzählt aber auch davon, dass das Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen möglich ist, denn über Jahrhunderte lebten dort deutsche, polnische, jüdische und tschechische Schlesier neben- und miteinander. Nicht zuletzt sieht man an der Geschichte Schlesiens, welche verheerenden Folgen ein aggressiver Nationalismus hat, der den Nachbarn zum Feind erklärt, nur weil er andere ethnische Wurzeln und einen anderen Glauben hat. Und heute stehen wir ja wieder einem wachsenden Nationalismus in ganz Europa gegenüber.

Haben Sie schon neue Schreibprojekte?
Mir gehen verschiedene Projekte im Kopf herum. Aber diese Schmetterlinge müssen sich erst noch setzen, damit eines der Projekte richtig Fuß fassen kann.