Die historischen Hintergründe von ›Verachtung‹

Der vierte Fall von Sonderdezernat Q um die als vermisst gemeldete Rita Nielsen ist natürlich fiktiv. Mehr als real jedoch sind die Geschehnisse auf der Insel Sprogø, die Jussi Adler-Olsen als Grundlage für seinen Thriller ›Verachtung‹ verwendet.

Wer heute die beschauliche, kleine Insel Sprogø mit ihrem hübschen Leuchtturm sieht, kann sich kaum vorstellen, dass die dänische Insel bis vor 50 Jahren noch Schauplatz von grausamen »medizinischen« Behandlungen war. Denn von 1922 bis 1961 betrieben die ›Kellerschen Anstalten‹ auf der Insel ein Heim für Frauen, die mit dem Gesetz oder der Moral in Konflikt gekommen oder wegen Geistesschwäche entmündigt worden waren.

Die ›Kellerschen Anstalten‹ waren eine – aus damaliger Sicht – fortschrittliche Einrichtung für psychisch Kranke bzw. geistig Behinderte. Der Grundstein der von Christian Keller (1858-1934) betriebenen Institution wurde 1898 in Brejning zwischen Fredericia und Vejle gelegt, das erste Gebäude für männliche Patienten im Juli 1899 eingeweiht. Die idyllisch am Vejle Fjord gelegene Anlage bot Platz für sechshundert Patienten, diese Zahl vervielfachte sich aber in den folgenden sechzig Jahren. Erweiterungsbauten und Dependancen machten es möglich.

Die berühmtesten Dependancen waren die Insel Livø im Limfjord, auf der von 1911 bis 1970 geistesschwache und oft kriminelle Männer isoliert wurden, sowie die Insel Sprogø, dem Gegenstück für weibliche Patienten bzw. Insassen (1923-1961).

Christian Keller war von 1900 bis 1932 Oberarzt in Brejning. Keller übte hinsichtlich des Umgangs mit Geisteskranken großen Einfluss auf das dänische Gesundheits- und Sozialsystem aus. So sorgte er zum Beispiel dafür, dass ab 1898 sämtliche Einrichtungen zur Behandlung von Geisteskranken unter staatliche Aufsicht gestellt wurden. Er war es auch, der 1923 auf Sprogø die Anstalt für geistesschwache und/oder für den Geschmack der Zeit sexuell zu freizügige Frauen eröffnete. Beeinflusst von der amerikanischen Eugenikdebatte wurde er zum Initiator des Sterilisationsgesetzes, das 1929 in Kraft trat und europaweit das zweite Gesetz zur Rassenhygiene war.

Dänemark galt schon bald als Vorreiterland in Sachen Überwachung, systematischer Einweisung und Unterbringung in Anstalten sowie Sterilisierung von Geisteskranken. Die Anlage in Brejning sowie die Dependancen auf Livø und Sprogø wurden zu Vorzeigeanstalten und sollten ganz Europa als Vorbild dienen. Sie galten als Beweis dafür, dass Dänemark ein fortschrittliches, humanes Land war. Insbesondere die Insel-Anstalten betrachtete man als eine menschenfreundliche Unterbringung, weil sie den Patienten mangels Fluchtmöglichkeiten (die natürliche Barriere des Wassers) mehr Freiheit und weniger Überwachung im Alltag bescherte.

Die Frauen, die auf Sprogø landeten, waren angeblich geisteskrank, widerspenstig, sexuell abartig und/oder Prostituierte. Auch waren einige wenige unverheiratete, schwangere Mädchen darunter. Sie alle erwarteten auf der Insel unmenschliche Strafen, angefangen bei der zeitlich unbestimmten Insel-Isolation bis hin zur Zwangssterilisation, die oft die einzige Möglichkeit war, die Insel doch noch wieder verlassen zu dürfen. Obwohl alle auf Sprogø untergebrachten Frauen offiziell krank waren, wurde keine von ihnen entsprechend behandelt. Das wahre Ziel der Internierung war, die »Verbreitung schlechten Erbmaterials« zu verhindern.

Die Frauen in der »Besserungsanstalt« wurden als eine Gefahr für die Gesellschaft betrachtet. Laut Christian Keller handelte es sich um »leicht debile Frauen, deren erotische Ausstrahlung eine wesentliche Gefahr für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten« darstellte. Doch mit der Insel-Isolation vermied man nicht nur die Verbreitung solcher Krankheiten, sondern auch unerwünschte Schwangerschaften und Geburten von unehelichen Kindern.

Keine der Frauen wusste, wie lange ihr Aufenthalt auf der Insel dauern würde, im Durchschnitt aber blieben sie sieben Jahre. Insgesamt war auf Sprogø Platz für fünfzig Frauen.

In der Zeit von 1923 bis 1961 waren schätzungsweise 500 Frauen auf Sprogø untergebracht. Im Rest Dänemarks wussten nur wenige von diesem »Gefängnis für liederliche Frauen«. Auf der Insel Fünen soll es vereinzelt Mütter gegeben haben, die ihren halbwüchsigen, aufmüpfigen Töchtern in den 1950er Jahren schon mal drohten, sie würden sie »nach Sprogø« schicken, wenn sie nicht gehorchten.

© Marieke Heimburger, 2012