Der Garten als Lehrmeister: Ein Gespräch mit Katrin de Vries 

Katrin de Vries hat mit ›Ein Garten offenbart sich‹ ein wunderbares Buch über ihren ostfriesischen Garten geschrieben, der sich in seiner natürlichen Schönheit offenbart. Im Interview erzählt sie, warum es sich lohnt, starke wilde Pflanzen einfach wachsen zu lassen und nicht als störend zu empfinden.

›Olga Tsitiridou (dtv):‹ Ihr Buch beginnt mit einer wunderbaren Szene, in der Ihre Urgroßmutter die ersten Frühkartoffeln unter der Erde ertastet und erntet. Für sie waren diese Frühkartoffeln wahre Schätze. Mangelt es den Menschen heutzutage an Wertschätzung für die Gaben der Natur?
Katrin de Vries: Wenn wir uns so fragen, landen wir schnell in einer moralischen Zwickmühle: bei Schuld, beim schlechten Gewissen. Moralisch zu urteilen oder gar zu verurteilen, sollte beim Gärtnern aber eine möglichst geringe Rolle spielen. Durch die Brille der Vorwürfe, auch der Selbstvorwürfe, sehen wir nämlich nicht besonders gut. Und auf das geduldige, möglichst gleichmütige Hinschauen kommt es von Anfang an. Mit den Augen nehmen wir Fühlung auf. Das Wertschätzen beginnt schon mit dem ersten langen Blick.

Wie konnte es so weit kommen, dass der Mensch Wildblumen wie das Gänseblümchen als Unkraut ansieht und Unkrautvernichtungsmittel gegen diese Pflanzen einsetzt? Überhaupt: Was steckt für Sie persönlich im Wort: Unkraut?
In der Sprache spiegelt sich unsere Gesellschaft. ›Unkrautvernichtungsmittel‹ werden in der Welt der Werbung oft als ›Pflanzenschutzmittel‹ bezeichnet. Das ist schlimmer als nur beschönigend, es ist eine gezielte Irreführung, genau besehen eine Lüge. Ein Gift wird zum ›Schutzmittel‹ erklärt – ein tückischer Coup, mit dem sich gut verdienen lässt. In vielen privaten Gärten werden Gifte eingesetzt. Es ist für uns selbstverständlich geworden, nicht erwünschte Pflanzen auf diese Art und Weise zu beseitigen. Starke wilde Pflanzen auf einem Fleck erst einmal einfach wachsen zu lassen, fällt uns sehr schwer. Sie nicht von vorneherein als störend, ja sogar als Feinde zu sehen, müssen wir neu lernen. Aber es lohnt sich!

Wie waren die Reaktionen auf Ihre ostfriesische Wildnis – in einem Land der akkurat gemähten Rasenflächen?
Rasenflächen werden überall auf der Welt mehr oder minder akkurat gemäht, nicht nur in Ostfriesland. Wer etwas Anderes ausprobiert, erntet ganz unterschiedliche Reaktionen. Sie reichen von einem begeisterten ›Was für ein Dschungel!‹ bis hin zu ›Das ist ja furchtbar!‹. Aber das wohlmeinende Wahrnehmen beginnt zu überwiegen. Es deutet sich ein Sinneswandel an.

›Gleichförmigkeit, Ordnung und Sauberkeit‹ und der ›Zwang der Perfektionierung‹. Der Garten als erweitertes Wohnzimmer. Was steckt dahinter?
Angst! Die Furcht, dass etwas von außen in unsere Welt eindringen und uns überwältigen könnte. Das moderne Leben verlangt auf so vielen Ebenen Kontrolle und Ordnung von uns. Halten wir uns nicht daran, geraten wir schnell in Schwierigkeiten. Wir können uns beim Gärtnern nicht von einem Tag auf den anderen völlig anders fühlen und alles anders machen. Versuchen wir es aber ein Stück weit, so wird dies - je nachdem, wie weit wir gehen - eine Konfrontation mit unseren Bedenken, Ängsten, Vorurteilen, aber auch mit unseren Wünschen und unseren Sehnsüchten.

Glauben Sie, dass in einer Welt voller medialer Eindrücke die Menschen ein Stück weit verlernt haben, innezuhalten und den Blick auf das Wiesenschaumkraut, den Kriechenden Günsel oder Schmetterlingspärchen zu richten?
Die Singularform zu ›Medien‹ lautet ›Medium‹. Eigentlich ein schönes und erhellendes Wort. Ein Medium vermittelt von einer Sphäre in eine andere. Pflanzen können eine solche Vermittlung leisten. Sie vermitteln von einem Bewusstseinszustand, von einer Wahrnehmungsweise in eine andere seelische Verfassung. Wie diese genau aussieht, ist nicht restlos vorherzusehen. Wie wirkt eine Brennnessel, die mit einem Gespinst voller Schmetterlingsraupen überzogen ist, auf die Betrachter? Vielleicht sind nicht wenige von uns unwillkürlich ein wenig angeekelt? Oder rührt uns dieser Anblick? Erfüllt er uns womöglich mit Demut? Auch wir Menschen gehören zur Natur, wir sind ein Teil von ihr und bleiben in sie verwoben. Wir sind nicht bloß Kulturwesen, sondern bleiben immer auch Naturwesen. Das mag sich ein wenig befremdlich anhören: Wir sind und bleiben Teil der Natur. Wir sind nicht irgendwann von fremden Mächten, von Außerirdischen, auf diesen Planeten gesetzt worden. Und wir werden uns nicht Richtung Mars aus der irdischen Natur entfernen können.

Lassen Sie ihren Garten weiterwachsen, so wie bisher, oder haben sie Pläne für neue Pflanzen etc.?
In unserem Garten ist unweigerlich immer Veränderung. Mittlerweile begreife ich, wie sich über Vögel oder den Wind Samen ansiedeln. Es passiert sehr viel ohne unser Zutun. Aber ja, manchmal bin auch ich es, die etwas Neues versucht und ein Bäumchen oder einen Strauch in die Erde setzt. Das Anwachsen gelingt nicht immer. Manchmal geht ein mit Liebe gepflanzter Busch irgendwann wieder ein. Das Risiko des Misslingens gehört zur besonderen Freude des Gelingens!

Interview: Olga Tsitiridou (dtv), Februar 2024

Betritt man unser Verlagsgebäude ist Olga Tsitiridous Gesicht das Erste, das einem vom Empfang entgegenstrahlt. Für das dtv Magazin stellt Olga regelmäßig ihre persönlichen Lese-Highlight aus dem aktuellen Programm vor, lässt aber auch immer wieder ihren Schreibtisch zurück und macht sich auf die Suche nach neuen, spannenden Stories über alles, was ein Bücherherz bewegt.