Liebe und Literatur – Alexander Fest im Interview

Alexander Fest ist Beratender Verleger bei dtv. Im Interview mit Olga Tsitiridou spricht er über große Liebende in der Weltliteratur, darüber, was einen klassischen Liebesroman ausmacht, und über die Liebe als Rhythmusgeberin des Lebens.

Olga Tsitiridou: Was an der Liebe ist so zeitlos, dass wir im Jahr 2023 darüber sprechen können, wie HomerLew TolstoiGustave FlaubertTheodor FontaneJane AustenJames Baldwin … darauf geschaut haben. Viele Themen setzen eine Patina an, die Liebe aber bleibt ein Klassiker.
Alexander Fest: Die Liebe ist nicht zeitlos, glaube ich – die Zeit ist ja die große Mitmischerin, Sicheinmischerin in der Liebe –, aber die Bücher, die Sie nennen, sind es, und darum trifft uns die Beschreibung der Liebe darin so stark. Dazu die vertrauten Lebenstatsachen: dass jeder die Liebe kennt; dass sie für jeden eine Wunsch-Notwendigkeit ist. Dass sie ein so klarer Spiegel dessen ist, was wir sind, manchmal erschreckend, in dieser Klarheit. Dass sie uns genauso maßlos glücklich wie unglücklich macht und dass die Zeiten, in denen das geschieht, unserm Leben einen Rhythmus geben, eine Anordnung, tiefer als alle selbst gewählten Ordnungen und Rhythmen.

Anna KareninaMadame BovaryEffi Briest – Ehebrecherinnen, Ikonen der Liebe? Sind diese Bücher die Klassiker für alle Liebeshungrigen?
Diese Bücher sind, was man Klassiker nennt, ja, und sie sind bestimmt für alle Liebeshungrigen geschrieben, wie Sie sagen, aber im Grunde überhaupt für alle oder wenigstens für alle Leser. Sie handeln vom Ehebruch, was mit der Zeit zu tun hat, in der sie entstanden sind, dem 19. Jahrhundert, mit der Vorstellung von Liebe als bürgerlichem normalem Skandal, und vielleicht kann man sagen, dass sie die drei möglichen Verhaltensweisen der Liebe gegenüber zeigen: Tolstoi verurteilend, Flaubert teilnahmslos vor Genauigkeit und um seine Sätze auf die kalte Höhe zu bringen, die er im Kopf hatte, Fontane mitgehend, mitfühlend; ich habe Effi Briest erst vor ein paar Monaten noch einmal als Hörbuch gehört und war erstaunt, mit welcher Trauer das Buch geschrieben ist. Der Ehebruch verstärkt in den Büchern aber auch einfach die Klarheit des Spiegels, der die Liebe ist: Wir sehen, was uns gezeigt wird, dadurch schärfer und heller, und die drei Heldinnen auch. Nicht zu ihrem Vorteil.

Was macht für Sie persönlich einen guten klassischen Liebesroman aus?
Das weiß ich nicht. Ich glaube auch nicht, dass es möglich ist, dafür erforderliche Momente zu benennen. Der klassische Liebesroman ist wie jeder andere Roman auch, das heißt, er ist nur etwas wert, wenn er uns überrascht. Wenn wir ihn zu lesen beginnen mit dem Gefühl, wir wüssten schon, worum es geht, und dann sehen müssen, an tausend Einzelheiten, wir wissen es nicht, es ist ja alles neu und völlig anders, als wir erwartet haben.

Anna legt sich auf die Gleise, nicht Wronski. Hat das nur mit der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zu tun oder auch mit der Tatsache, dass die Literatur die Frauen als große Liebesverschwenderinnen liebt?
Ist die Liebe von Anna denn verschwendet? Ich hoffe nicht, weil ihr sonst ja kaum etwas bleibt, aber die Frage führt tief in den Roman hinein, kann sein, dass sie gar nicht zu beantworten ist. Sicher ist: Annas Leben wird durch ihre Liebe zu Wronski zerstört und so gesehen vielleicht verschwendet, ja, aber das ist etwas anderes und hat tatsächlich mit dem 19. Jahrhundert und den festen äußeren Formen zu tun, die es den Gefühlen geben wollte. Diesen stark disziplinierten Formen, ohne die der Konflikt, von dem Tolstoi erzählt, nicht möglich wäre; und es hat auch mit Tolstoi zu tun und der Art, wie er über Anna, sobald er aus dem Erzählen heraustritt, urteilt und die ihn gegen Ende des Romans, bei Annas Selbstmord, zu dem unglaublichen Satz gebracht hat, dass im letzten Licht, das auf das Buch ihres Lebens fällt, nicht nur Unruhe usw. sichtbar wird, sondern auch Bosheit.

Licht und Schatten. Auf welcher Seite der Liebe man steht, hängt von ziemlich vielen Dingen ab. Zeigt uns die Literatur, dass Liebe nur eine Vorstellung ist, die sich niemals verwirklichen lässt? Wird sie bedeutsamer, wenn sie unerfüllt bleibt?
Dass die Liebe bedeutsamer wird, wenn sie unerfüllt bleibt, glaube ich nicht; dass sie nur eine Vorstellung ist, wobei Ihr  »nur« mir schon wieder mehr zu denken gibt, als ich hier sagen kann, auch nicht. Nicht bei Tolstoi jedenfalls. Anna Kareninas Liebe zu Wronski, so, wie ich sie in Erinnerung habe, ist ganz wirklich. Bei Flaubert möglicherweise eher, weil es ihm darauf ankommt, dass Emma auch von ihren eigenen Vorstellungen, den tödlich süßen Reizen ihrer Lektüren als sehr junge Frau und ihrer eigenen verlogenen Innenwelt getäuscht wird. Ihre Liebesidee beginnt ja mit der Lektüre von Romanzen usw.

Eine Zeile sagt manchmal mehr als 500 Seiten. Es gibt auch wunderbare Liebesgedichte. Sollten wir mehr Gedichte lesen, um eine Idee vom Ausmaß der Liebe zu bekommen?
So ist es, ja. Wobei dasselbe für die großen Erzählungen gilt, die Sie genannt haben und die genauso Erweiterungen unserer Vorstellungskraft, also unserer Ideen sind, was alles Liebe sein muss und sein kann.

Interview: Olga Tsitiridou (dtv), Februar 2023

Betritt man unser Verlagsgebäude ist Olga Tsitiridous Gesicht das Erste, das einem vom Empfang entgegenstrahlt. Für das dtv Magazin stellt Olga regelmäßig ihre persönlichen Lese-Highlight aus dem aktuellen Programm vor, lässt aber auch immer wieder ihren Schreibtisch zurück und macht sich auf die Suche nach neuen, spannenden Stories über alles, was ein Bücherherz bewegt.