Interview mit Anja Jonuleit über ihren Roman ›Der Apfelsammler‹

1. Sie lebten einige Jahre in Großstädten wie New York, Rom und Damaskus. Wie kommt es, dass Ihr Roman in Castelnuovo in Italien spielt? - Ich nehme an, es gibt ein reales Vorbild für dieses Dorf. Haben Sie einen besonderen Bezug dazu?

Der Ort muss zur Geschichte passen, das ist im Grunde alles. In diesem Fall bilden Ort und Geschichte sogar ein untrennbares Ganzes, denn der ›Apfelsammler‹ - den es tatsächlich gibt - lebt auf einem uralten Anwesen im oberen Tibertal, dem Grenzgebiet zwischen Umbrien und der Toskana. Und weil ich wollte, dass mein Roman diese ganz besondere umbrische Stimmung atmet, musste die Handlung dort stattfinden. Zudem kannte ich Umbrien schon vorher: Es ist die einzige Region Italiens, die nicht am Meer liegt und die insofern vom Massentourismus noch wenig heimgesucht wird. Für mich ist es eine Gegend voller Geheimnisse: gewundene Sträßchen, die ins Nirgendwo zu führen scheinen; dichte, weite Wälder; abgelegene, winzige Ortschaften; schlichte, dunkle Kirchen, in denen man einfach so sitzen und eine Weile in die Stille lauschen kann.

2. Der ›Apfelsammler‹ ist in Wirklichkeit eine Frau mit dem Namen Isabella dalla Ragione. Wie kamen Sie auf diese bemerkenswerte Dame und welche Parallelen gibt es außerdem in Ihrem Buch zur Realität?

Der Ursprung des Ganzen ist ein 2007 in der ›Geo‹ erschienener Artikel über Isabella dalla Ragione, ihres Zeichens »Obstarchäologin«. Die Geschichte dieser ungewöhnlichen Frau, die wunderschönen, stimmungsvollen Bilder, die ganze Szenerie, die da beschworen wird – all das hat mich sofort in seinen Bann gezogen. Ich habe den Artikel dann in meine »Schatzkiste« gepackt und als die Zeit reif war, habe ich angefangen zu recherchieren. Zum einen habe ich Kontakt aufgenommen mit Isabella dalla Ragione, habe ihre beiden (auf Italienisch erschienenen) Bücher über alte Obstsorten studiert und war sogar in San Lorenzo, wo ich diesen magischen Ort mit eigenen Augen sehen konnte.
Was real ist und was Fiktion? Die Handlung - das »Drama« - ist natürlich frei erfunden. Allerdings habe ich dieses Drama auf meine Rechercheergebnisse gepfropft, um es mal »obstbautechnisch« zu sagen. Und so existieren all die im Buch erwähnten (drolligen) Obstsorten tatsächlich, der Eselshintern und das Ochsenmaul, um nur zwei zu nennen. Den Mustergarten gibt es und was ich Matteo Di Lauro im Gespräch mit Hannah in den Mund gelegt habe, über seine Arbeit, über Slow Food u.a. entspringt zum Teil auch der Realtität. Und wie Matteo nimmt auch Signora dalla Ragione im echten Leben bei der Bestimmung der alten Sorten antike Stiche und Ölgemälde zu Hilfe. Besonders inspirierend war für mich eine Fotografie, ebenfalls aus der ›Geo‹, die ich »das blaue Bild« nenne und auf der San Lorenzo in der Dämmerung zu sehen ist.
Ein Kuriosum, das an dieser Stelle erwähnenswert ist: Eine befreundete Künstlerin, Constanze Funke, hat sich von meinem ›Apfelsammler‹ inspirieren lassen und Szenen, die sie besonders berührten, ins Bild gesetzt. Eine davon ist »das blaue Bild«. Als ich Constanzes Interpretation davon das erste Mal sah, staunte ich nicht schlecht. Denn ohne dass sie das Foto aus der ›Geo‹ je gesehen hätte, ist etwas sehr Ähnliches entstanden – allein durch die Beschreibung in meinem Buch. Zu sehen sein werden die Bilder im Oktober im Kressbronner Rathaus. Die Vernissage samt Lesung ist am 9.10.2014.

3. ›Der Apfelsammler‹ ist ihr sechster Roman bei dtv. Ohne einen »Liebling« küren zu müssen, was verbindet Sie mit Ihren Romanen? Haben Sie ein Anliegen?

Ich sag mal: meine Figuren, die weder schwarz noch weiß sind, sondern alle denkbaren Graunuancen in sich vereinen. Am meisten interessieren mich Menschen, deren Biografien Brüche aufweisen, Richtungswechsel. Zu verstehen: Was steckt dahinter, wie kam es dazu? Ein Bruch oder ein Richtungswechsel ist ja oft ein Prozess, bei dem es erstmal nach unten geht. Diesen Prozess zu begleiten, finde ich spannend. Nachzuvollziehen, wie jemand durch Schwierigkeiten hindurchgeht und diese dann irgendwann hinter sich lässt.
Mein Anliegen? Vielleicht das Vermitteln von Stimmungen? Bilder im Kopf der Leser entstehen zu lassen, die im Idealfall nachklingen. Der Wunsch, etwas (mit-) zu teilen, was ich selbst kurios-bemerkenswert-absonderlich-finster-traurig finde. Und dann gibt es da immer wieder Themen, die mich aus irgendeinem Grund nicht mehr loslassen und die ich ein bisschen »in die Welt tragen möchte«: Bei ›Herbstvergessene‹ ist das der Lebensborn, bei ›Die fremde Tochter‹ ein über 30 Jahre zurückliegender Kriminalfall aus der Bodenseeregion, aber auch der »Tee«; und bei ›Der Apfelsammler‹ dieser Kampf gegen Windmühlen, den Isabella dalla Ragione gegen die industrialisierte Landwirtschaft führt.