Nachwort von Anja Jonuleit über den Hintergrund ihres Romans ›Rabenfrauen‹

Als ich vor einigen Jahren begann, mich mit der Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad auseinanderzusetzen, wollte ich zunächst nur klären, ob ich genügend Material für einen Roman finden würde. Zu meiner Überraschung gewann ich bald den Eindruck, dass die Thematik – obwohl eine deutsche – in Deutschland relativ unbekannt ist. Eine intensivere Recherche zeigte jedoch bald, dass es in Presse und Sachliteratur eine Unmenge an Einzelinformationen dazu gibt. Nachdem ich das Ganze in mir hin und her gewälzt hatte, schob ich es erst einmal beiseite. Zu furchtbar waren die Vorkommnisse in dieser totalitären Sekte.
Doch das Thema ließ mich nicht los. Immer wieder fragte ich mich, wie um Himmels willen es möglich war, dass eine erwachsene Person sich ohne Not einer derartigen Gehorsamsstruktur unterordnet. Sicher, die Suche nach einem höheren Sinn, die Sehnsucht nach Geborgenheit, nach Nähe und Identität führen Menschen immer wieder in die Arme von selbst ernannten Heilsbringern. Doch was ein Erwachsener für sich selbst beschließt, ist eine Sache. Was ich bis heute nur schwer begreife, ist die Entscheidung der Sektenmitglieder, die Verantwortung für die eigenen Kinder an andere abzugeben, wie dies bei den Eltern in der Colonia Dignidad der Fall war.

Als ich den Entschluss fasste, das Buchprojekt nun ganz konkret anzugehen, wurde mir eines ziemlich schnell klar: Informationen aus zweiter Hand hatte ich genug gesammelt. Um mich dem Thema auf eine persönliche Weise nähern zu können, musste ich selbst dorthin reisen, musste alles mit eigenen Augen sehen und versuchen, mit Menschen zu sprechen, die all das wirklich erlebt haben. Auch suchte ich nach einer Antwort auf die Frage: Wie überlebt ein Mensch so etwas? Welche Strategien legt er sich zurecht, legt er sich überhaupt irgendetwas zurecht oder reagiert er immer nur auf die jeweilige Situation, in der Hoffnung, dieses Mal ungeschoren davonzukommen? Wie kommt er zurecht in einem sozialen System, in dem er niemandes Freund sein darf, umgeben von Spitzeln und Verrätern, die jedoch – so seltsam das auch klingen mag – nicht aus Bosheit handeln, sondern, wie Rita Albers mir erklärte, aus einer Art selbstgerechter Härte heraus, getrieben von einer überheblichen Frömmigkeit.

Im März 2014 flog ich, begleitet von meiner Tochter Marlene, nach Chile. Im Laufe unseres Aufenthaltes in der Villa Baviera hatten wir Gelegenheit, mit acht ehemaligen Sektenmitgliedern zu sprechen.

Mein Dank gilt diesen Menschen, die mich freundlich empfangen und mir von ihrem schweren Leben berichtet haben. Aus Rücksicht werde ich ihre Namen hier nicht nennen. Besonders danken möchte ich Rita Albers (deren Namen ich geändert habe). Noch Monate nach unserem Besuch hat sie viel Zeit für die Beantwortung meiner Fragen aufgewendet. Am Ende hat sie sich sogar die Mühe gemacht, Christas Geschichte ganz zu lesen und zu kommentieren.

Zur Größe des Areals der Villa Baviera bin ich auf unterschiedliche Angaben gestoßen. Mal ist die Rede von 13 000 Hektar, mal von 15 000 Hektar, 17 000 Hektar, dann wieder von 30 000 Hektar. Um sich eine Vorstellung von den Größenverhältnissen zu machen, wird die Flächenausdehnung des Gebiets oft mit der Größe des Saarlands verglichen.

Was Paul Schäfers Aufenthaltsorte in seinen frühen Jahren in Deutschland angeht, widersprechen sich einige Angaben im Detail. So schreibt der Journalist Gero Gemballa in seinem 1998 erschienenen Buch Colonia Dignidad. Ein Reporter auf den Spuren eines deutschen Skandals, dass der Jugendpfleger Paul Schäfer zum Jahreswechsel 1949/50 von der Siegburger Gemeinde entlassen worden sei, weil seit 1947 gegen ihn mehrere Anzeigen vorgelegen hätten, er habe sich an seinen Schützlingen vergangen. Er soll daraufhin ein Jahr bei der Paketpost in Siegburg gearbeitet haben. Friedrich Paul Heller schreibt, Paul Schäfer sei 1948 Jugendpfleger in der Baptistengemeinde in Gartow in Niedersachsen gewesen, wo ihm 1951 wegen seiner Homosexualität gekündigt worden sei. In Gero Gemballas erstem, 1988 erschienenem Werk Colonia Dignidad. Ein deutsches Lager in Chile schreibt dieser, Paul Schäfer habe in Pirvitsheide bei Lüchow- Dannenberg als Jugendpfleger in einem evangelischen Kinderheim gearbeitet, wo er 1952 entlassen worden sei. Die Journalistin Ulla Fröhling spricht in ihrem Buch Unser geraubtes Leben davon, der Jugendpfleger Paul Schäfer sei als 26-Jähriger wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch an Minderjährigen von der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern entlassen worden. Der Spiegel berichtet in seinem Artikel Colonia Dignidad- Gründer: Ein Onkel aus Deutschland, dass Paul Schäfer als Jugendpfleger der evangelischen Kirche Ende der vierziger Jahre entlassen worden sei, weil sich Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in evangelischen Zeltlagern verdichtet hätten.

Auch war nicht mit Sicherheit festzustellen, wann und wo genau »der Weihnachtsmann versenkt wurde« – ob bereits Anfang der sechziger Jahre oder Mitte der siebziger, ob in einem kleinen See oder im Fluss Perquilauquén.

Zudem sei erwähnt, dass ich mir im Sinne der literarischen Gestaltung einige Freiheiten zeitlicher und örtlicher Art herausgenommen habe. Der Ort Grösitz beispielsweise ist fiktiv. Der Hühnerstall, in dem Christa arbeitete, wurde erst 1965 gebaut, das Zippelhaus 1963. Das Hotel wurde erst 2012 eröffnet, nicht bereits 2010.

Abschließen möchte ich mit den Worten Gero Gemballas, den das Thema bis zu seinem frühen Tod 2002 nie losgelassen hat: »Es ist erstaunlich, dass die Colonia Dignidad anders als andere Sekten in der internationalen Berichterstattung so nah am Tatsächlichen beschrieben wurde, so wenig Übertreibung, Phantasie und Gruseliges hinzugefügt wurde. Vielleicht lag das daran, dass die Realität eigentlich nur noch schwer zu übertreffen ist.«


COLONIA DIGNIDAD: EIN ÜBERBLICK. ZUM HINTERGRUND DES ROMANS ›RABENFRAUEN‹ VON ANJA JONULEIT

»Wie konnte es eigentlich sein, dass die Polizei, die schon 1960 gegen Schäfer ermittelte, seine Flucht aus Deutschland nicht verhindern konnte? Wie war es möglich, dass Kinder, die offiziell mit Schäfer auf Chorreise gingen, nach Chile entführt wurden und die Gerichte, vor denen die zurückgebliebenen Eltern um ihre Kinder kämpften, keine Möglichkeit fanden, sie zurückzuholen? Dass die chilenische Botschaft, das Auswärtige Amt, die deutsche Botschaft in Chile erfolglos agierten? Briefe, Hilferufe, archiviert im Auswärtigen Amt, gab es genug.«
Aus dem DEUTSCHLANDFUNK-Feature ›Villa Baviera – Die ehemalige Colonia Dignidad‹ von Heike Tauch
Mitte der fünfziger Jahre lernt der ehemalige Jugendpfleger Paul Schäfer den Prediger einer evangelikalen Freikirche in Salzgitter, Hugo Baar, kennen. Hugo Baar ist sofort fasziniert von dem redegewandten Mann mit seinen Forderungen nach bedingungslos gelebtem Urchristentum.
Um neue Anhänger zu gewinnen, veranstalten Baar und Schäfer Bibelwochen und Zeltfreizeiten, auf denen sie sexuelle Enthaltsamkeit, die Abkehr von einer verkommenen, vom Satan beherrschten Welt und die absolute Notwendigkeit, alles zu beichten, predigen. Um Gott besonders nahe zu sein, geht man gemeinsam in den Wald, um in Zungen zu beten. Schäfer und Baar beginnen »Seelsorgeakten« zu führen, in denen die von den Mitgliedern abgelegten, oft intimsten Bekenntnisse in Form von schriftlichen Beichten gesammelt werden. Auf diese Weise wird Paul Schäfers Einfluss auf die einzelnen Gemeindemitglieder immer größer. Viele Jahre später, Hugo Baar hat sich längst von Paul Schäfer distanziert, wird Baar am 22. Februar 1988 in einer Anhörung des Deutschen Bundestages vor dem Unterausschuss für Menschenrechte aussagen, dass diese Beichte nichts mehr mit Beichte im christlichen Sinne zu tun hatte, dass es dabei »bis in die Gedankenwelt hineinginge. Niemand darf etwas haben, was geheim ist.«
Was zu dem Zeitpunkt niemand weiß: Während Paul Schäfer die Sexualität – auch die von Eheleuten – gegenüber seinen Anhängern als »Fleischespest« geißelt, wurde er in der Vergangenheit wiederholt wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen von verschiedenen Arbeitgebern (so der Stadt Siegburg und der evangelischen Kirche) entlassen.
In dieser Zeit beginnt Schäfer, die Angst der Mitglieder vor einem Einmarsch der Roten Armee zu schüren, um sie zur Auswanderung nach Chile zu bewegen. Da es sich bei etlichen Gemeindemitgliedern um Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten handelt, hat er bei diesen Menschen leichtes Spiel, haben sie doch schon einmal alles verloren: einen geliebten Menschen, ihre Heimat, ihr Hab und Gut und überdies ihre Familienidentität, also die Geborgenheit, die aus dem Wissen entsteht, zu einem Familienverbund zu gehören. Die Gemeinde wird Ersatzfamilie. Mit der Zeit fordert Schäfer immer vehementer, dass die Mitglieder ihre Kontakte nach außerhalb beschränken, denn »ein freier Christ kann Gott besser dienen«.
Zu Beginn ist es innerhalb der Gemeinde Usus, den »Zehnten « abzugeben. Später fordern Schäfer und Baar von den Mitgliedern ihr gesamtes Vermögen: Erbschaften, Lebensversicherungen und Rentenansprüche werden der Gemeinschaft übertragen.
Mit dem Geld investiert Schäfer in verschiedenen Bereichen. 1958 gründen Schäfer und Baar in Lohmar-Heide bei Siegburg die Private Sociale Mission, ein als gemeinnütziger Verein eingetragenes Heim für die Aufnahme gefährdeter Jugendlicher. Doch werden dort nicht nur gefährdete Jugendliche auf den rechten Pfad zurückgebracht. In abendlichen Herrenrunden in einem eigens dafür gebauten Bunker werden Teufelsaustreibungen veranstaltet und »kesse Frauen« durch sogenanntes »Schinkenklopfen« gezüchtigt, wobei oben das Orchester aufspielt, um das Geschrei der Geschlagenen zu übertönen. All das geschieht unbemerkt von der Öffentlichkeit. Erst als die Staatsanwaltschaft Bonn 1961 ein Ermittlungsverfahren (Az. Js 173/61) gegen Paul Schäfer wegen »Unzucht mit Abhängigen« einleitet, zieht der Verein die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Doch da hat Paul Schäfer sich bereits ins Ausland abgesetzt. Die anderen folgen von Genua aus auf drei Schiffen, der Amerigo Vespucci, der Marco Polo und der Uso di Mare. Um zu verhindern, dass die Heimkinder des »Missionshauses« bei der Staatsanwaltschaft gegen Paul Schäfer aussagen können, wird ein Großteil von ihnen mit einem Trick nach Chile verschleppt: Um die Eltern zur Erteilung einer Reiseerlaubnis zu bewegen, wird ihnen erzählt, ihre Kinder dürften zu einer Chorfreizeit nach Belgien reisen. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Charterflug nach Chile. Alles in allem sind es rund 250 Gemeindemitglieder, die nach Chile auswandern.
Am 26. Juni 1961 gründen Schäfer und seine Anhänger in Santiago die Sociedad Benefactora y Educacional Dignidad, kurz Colonia Dignidad (Kolonie der Würde) genannt. Ziel der Gemeinschaft sei es, so deklarieren sie es gegenüber den chilenischen Behörden, sich um chilenische Waisenkinder zu kümmern.
»Arbeit ist Gottesdienst« lautet einer der Grundsätze Paul Schäfers, und so erschaffen die Siedler auf dem zunächst 13 000 Hektar großen Gelände 380 Kilometer südlich von Santiago ein nahezu autarkes Reich, das über alles Lebensnotwendige verfügt: eine eigene Landwirtschaft, eine Gärtnerei, eine Molkerei, eine Bäckerei, eine Wäscherei, ein Betonwerk, eine Ziegelei, eine Schlosserei, eine Schreinerei, eine Schule, einen Flugplatz, ein Kraftwerk. Bei der chilenischen Bevölkerung genießen die fleißigen Deutschen hohes Ansehen, nicht zuletzt wegen des kolonieeigenen Krankenhauses, in dem Patienten aus der Umgebung zweimal die Woche kostenlos behandelt werden. Nach außen wirkt dieser »Staat im Staate« mustergültig und vorbildlich.
Doch nach und nach dringt Befremdliches nach außen. So berichtet der im März 1966 aus der Colonia Dignidad geflüchtete Wolfgang Müller, der heute Kneese heißt, von Zwangsarbeit, Unterdrückung, brutalsten Misshandlungen und Zwangsmedikationen. 1968 erreicht Günther Bohnau, dessen Eltern und Geschwister in der Colonia Dignidad leben, folgender Brief seines Vaters: »Uns geht es hier sehr schlecht, wir werden hier sehr schlecht behandelt. Die Kinder werden furchtbar geschlagen, und wem das nicht passt und wer hier nicht bleiben will, wird bewacht. Die Mama war auch schon ein Jahr und zehn Monate eingesperrt, ich durfte in dieser Zeit unter Aufsicht ein paar Male mit ihr sprechen. Sie ist nur noch Haut und Knochen. Bitte helft uns doch hier heraus.« Günther Bohnau bittet das Auswärtige Amt um Hilfe und erhält zur Antwort, man werde die Sache an die zuständige Botschaft in Santiago weiterleiten. Doch die Angelegenheit verläuft im Sande. Mit Wolfgang Kneese gründet Günther Bohnau die Not- und Interessengemeinschaft für die Geschädigten der Colonia Dignidad, die sich in Vorträgen engagiert und sich immer wieder an die zuständigen Stellen wendet, jedoch vergebens.
Was währenddessen in der Colonia Dignidad geschieht, gleicht tatsächlich den Zuständen in einer Diktatur: Von Schäfer und seiner Führungsmannschaft, den »Herren«, entmündigte, von der Außenwelt abgeschottete Menschen werden mit physischer und psychischer Gewalt gezwungen, schwerste Arbeit ohne Entgelt zu leisten; ein von Schäfer geschaffenes System gegenseitiger Bespitzelung und Denunziation führt zu einer Zerrüttung der zwischenmenschlichen Bindungen und zum vollkommenen Vertrauensverlust. Mit persönlichen Anliegen dürfen die Bewohner sich ausschließlich an Schäfer wenden. Während Schäfer sich an seinen »Springern« vergeht – kleineren und größeren Jungen, die ihn Tag und Nacht begleiten –, verlangt er von seinen Anhängern sexuelle Enthaltsamkeit. Männer und Frauen, auch Ehepaare, sowie Jungen und Mädchen leben getrennt in Gruppen. Kleinste Annäherungsversuche zwischen den Geschlechtern wie Blicke werden drakonisch bestraft. Kleinen Mädchen und Jungen wird versucht, die aufkommende Sexualität mit sogenannten Viehtreibern – Elektroschockern – auszutreiben. Wer eine andere Meinung vertritt als Schäfer, wird mit körperlicher Gewalt und Psychopharmaka wieder auf Linie gebracht.
Nach und nach wird die Ansiedlung zu einer Festung ausgebaut. Das Gelände wird mit Stacheldraht eingezäunt und mit Lichtschranken und Bewegungsmeldern gesichert. In die Zaunpfähle werden Mikrofone eingelassen, die jedes Geräusch melden. Die Wege werden mit haarfeinen Stolperdrähten ausgestattet und in den Räumen werden Abhöranlagen installiert.
Nach der Machtergreifung Pinochets 1973 dient die Kolonie als Operationsbasis des chilenischen Geheimdienstes Dirección Nacional de Inteligencia (DINA). Auf dem Gelände kommt es zu schwersten Menschenrechtsverletzungen, systematischer Folter und der Ermordung von Regimegegnern, an der auch Mitglieder der Kolonie beteiligt sind. Im Gegenzug genießt die Kolonie Zoll- und Steuerfreiheit und andere Vergünstigungen und wird mit den Jahren zu einem mächtigen Wirtschaftsunternehmen, das auch vor illegalen Geschäften nicht zurückschreckt.
Die Carabineros in Parral werden durch Lebensmittelkörbe bei Laune gehalten. Zu einigen CSU-Politikern unterhalten Schäfer und seine Herren während dieser Zeit gute Beziehungen und pflegen den Kontakt zur deutschen Botschaft in Santiago, auf deren Parkplatz die Siedler Würste, Schinken und Kuchen verkaufen. Passverlängerungen und Lebensbescheinigungen werden im Sammelverfahren erledigt. Der damalige Botschafter nimmt die Dienste der Kolonie für Anstreicharbeiten an der Botschafterresidenz oder das Lackieren seines Wagens in Anspruch.
Im März 1977 kommt es zu einem Skandal: Amnesty International veröffentlicht einen Bericht mit dem Titel Colonia Dignidad: Deutsches Mustergut in Chile, ein Folterlager der DINA, in dem drei Folteropfer von ihren Erlebnissen in der Colonia Dignidad berichten. Die Colonia Dignidad reagiert mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Amnesty International verweist auf einen bereits im Oktober 1976 erschienenen Bericht der UNO, in dem von einem unterirdischen Folterzentrum auf dem Gelände der Kolonie die Rede ist. Nach über zwanzigjährigem juristischem Gezerre bekommt Amnesty International 1997 endlich Recht und darf offiziell behaupten, was längst öffentliches Wissen ist: dass die Kolonie dem chilenischen Geheimdienst als Folter- und Folterausbildungszentrum diente.
Mit dem Ende der Diktatur in Chile beginnt sich die Lage allmählich zu verändern. Unter der neuen demokratischen Regierung von Patricio Aylwin wird der Gemeinschaft das Privileg der Steuer- und Zollfreiheit entzogen. Als Folge wird die Sociedad Benefactora y Educacional in Villa Baviera umbenannt und nun als Aktiengesellschaft geführt. An den Lebensverhältnissen der Menschen dort ändert das jedoch nichts.
Erst im Sommer 1996, als chilenische Eltern Anzeige gegen Paul Schäfer wegen sexuellen Missbrauchs ihrer Kinder erstatten, wendet sich das Blatt und es wird ein Haftbefehl gegen Paul Schäfer ausgestellt. Im November 1996 durchsucht die Polizei erstmals das Gelände der Villa Baviera, das Stadthaus der Sekte in Santiago sowie das ebenso zur Gemeinschaft gehörende Casino familiar in Bulnes. Paul Schäfer bleibt verschwunden. In den nächsten Jahren finden auf dem Gelände der Sekte immer wieder kürzere und längere, zum Teil vierzigtägige Suchaktionen mit bis zu dreihundert Carabineros statt.
Am 10. März 2005 wird Paul Schäfer im Alter von 83 Jahren in Argentinien festgenommen. Am 24. Mai 2006 wird er von einem chilenischen Gericht wegen Kindesmissbrauchs in fünfundzwanzig Fällen zu zwanzig Jahren Haft verurteilt; außerdem zur Zahlung von 770 Millionen Pesos Schadensersatz. Am 24. April 2010 stirbt Paul Schäfer im Gefängnis von Santiago im Alter von 88 Jahren und wird auf einem Friedhof in Santiago anonym bestattet.
2005 beauftragt das Auswärtige Amt den Psychiater Prof. Dr. Nils Biedermann, der gemeinsam mit einem zweiköpfigen Team ein psychotherapeutisches Betreuungsprogramm für die in der Villa Baviera verbliebenen Bewohner startet. Doch die Bemühungen, eine herkömmliche Einzel- bzw. Gruppentherapie durchzuführen, scheitern. So wendet sich das Psychiaterteam einer anderen Form zu, der stark strukturierten Gruppentherapie, in deren Verlauf den Bewohnern das Konzept Familie erklärt wird.
Ende Januar 2013 verurteilt der Oberste Gerichtshof in Santiago 21 Personen der ehemaligen Führungsriege um Paul Schäfer. Sechs davon erhalten mehrjährige Gefängnisstrafen, so auch der ehemalige Arzt der Sekte, der sich der Verhaftung entzieht und nach Deutschland flieht, wo er bis heute unbehelligt lebt, da zwischen Deutschland und Chile kein Auslieferungsabkommen besteht.