Über die ›Moments‹ von Ben Aaronovitch
Tobias Winter – Maifeiertag 2016
»Daran sind nur die Engländer schuld«, sagte Tobi.
Ich sah zu dem roten VW Golf auf, der kopfüber in fünf Metern Höhe in einer Kiefer hing. Was genau ihn da oben hielt, war nicht zu erkennen – was ich ziemlich besorgniserregend fand. Nicht so Elton Schuster, der schon den Stamm hinauf war, bevor wir ihn darum bitten konnten. Immerhin überprüfte er seine Seile, ehe er Klettergurt und Steigeisen anschnallte und loslegte. Ein paar der leichter zu beeindruckenden Leute aus seinem Team blickten in unverhohlener Heldenverehrung zu ihm auf.
»Und warum diesmal?«, fragte ich, weil die Engländer bei Tobi seit Neuestem an allem schuld waren. Genauer gesagt, seit der Geschichte mit dem besessenen Segelflugzeug.
»Weil der Wagen heute Morgen als gestohlen gemeldet wurde, und zwar vom Parkplatz am Bahnhof von Wernigerode«, gab Tobi zurück. »Und dahin waren die Füchse unterwegs.«
»Ach, die Füchse«, sagte ich.
»Die englischen Füchse«, sagte er. »Die nach Wernigerode wollten.«
Wie uns ein Grüppchen betrunkener, als Hexen verkleideter junger Frauen gemeldet hatte, die sich in der Nacht verirrt und mit Hilfe der Gleise der Harzer Schmalspurbahn versucht hatten, zu einem begehbaren Weg zurückzufinden. Ihren Aussagen von heute Morgen zufolge waren ihnen auf den Gleisen ein paar Füchse entgegengekommen. Eine der Frauen hatte sie heiter gefragt, ob sie sich auch verlaufen hätten.
»Yes, actually«, hatte einer der Füchse auf Englisch geantwortet. »I wonder if you could help us.«
Woraufhin eines der Mädels umgehend Reißaus genommen hatte, die anderen waren hastig zurückgewichen – bis auf eine. Die Verbliebene, ob sie nun tapferer oder betrunkener war als der Rest, hatte ihr Schulenglisch hervorgekramt und gefragt, wie sie den Füchsen denn helfen könne. Diese waren, wie sich herausstellte, ebenfalls den Gleisen gefolgt, aber, so vermuteten sie, irgendwo falsch abgebogen. Sie wollten nach Wernigerode.
»Haben sie gesagt, warum?«, hatte ich gefragt.
Die junge Frau hatte nur den Kopf geschüttelt, dass ihr der Hexenhut um die Ohren schlackerte.
Zu meiner Zeit als gewöhnliche Polizistin hätte ich die Mädels für hochgradig bekifft gehalten, aber heute war der Tag nach der Walpurgisnacht, und in der Walpurgisnacht war alles möglich. Insbesondere in der Gegend um den Brocken. Tatsächlich passierten hier an diesem Datum alljährlich so seltsame Sachen, dass Elton und seine Einheit Besondere Umstände sich angewöhnt hatten, schon eine Woche vorher anzurücken und ihr Lager aufzuschlagen.
Tobi und ich waren am Vortag hergefahren und hatten in einem Hotel in Wernigerode übernachtet, daher hatten wir die „Hexen“ praktischerweise gleich befragen können, als diese ihre Gefährtin bei der dortigen Polizei als vermisst meldeten. Die Wernigeroder Polizeistation ist eine der hübschesten, die ich kenne, und da Tobi schon seit fünf Jahren regelmäßig herkommt, ist er mit den meisten örtlichen Kollegen längst per du.
Die Möchtegern-Hexen hatten den Vorfall nur gemeldet, weil ihre geflüchtete Freundin noch immer verschwunden war und sie sich Sorgen machten. Für die Suche wurden auch Elton und seine Besonderen Umstände rekrutiert, und dabei entdeckten sie den VW auf dem Baum.
Währenddessen tauchte die vermisste junge Frau auf einem Campingplatz am Südrand von Göttingerode wieder auf. Sie behauptete, ein freundlicher Wolf hätte sie aus dem Wald hinausgeführt.
»Sprach der Wolf Englisch?«, fragte Tobi.
»Nein, Deutsch natürlich«, sagte die Frau etwas indigniert. »Aber mit polnischem Akzent.«
Ich fragte mich, ob die polnischen Wölfe die englischen Füchse kannten.
»Vielleicht stehen sie sich ja feindlich gegenüber«, sagte Tobi beim Ausfüllen unseres Protokollformulars Unspezifischer Kontakt/A38c standortfremde Tierart. »Ich würde sie nicht für natürliche Verbündete halten, aber solange sie nicht die Hexen fressen, ist das nicht unser Problem.«
Für solche Fälle hätte es auch ein Formular gegeben: Unspezifischer tödlicher Vorfall/T54 tierische Ursache. Bislang hatten weder er noch ich es je benötigt, aber die Chefin hatte mir Beispiele aus den neunziger Jahren gezeigt, die unter anderem mit einem angeblichen unsichtbaren Elefanten zu tun hatten. Sie hielt ihn für ein Relikt aus dem Kalten Krieg, allerdings hatte sie das nie belegen können.
Der Papierkram war kaum erledigt, da rief Elton an und informierte uns über den VW Golf, der sechshundert Meter östlich des Brockengipfels in einem Baumwipfel steckte. Etwa zehn Kilometer vom Bahnhofsparkplatz Wernigerode entfernt, wo er zuletzt gestanden hatte.
„Also, ich glaube nicht, dass die Füchse ihn hergefahren haben«, sagte ich. Außer, sie waren bekannt mit Arthur Weasley, hätte ich am liebsten hinzugefügt. Aber ich habe gelernt, solche Dinge Tobi gegenüber nicht zu erwähnen – er ist nicht sonderlich belesen.
»Hey«, rief Elton vom Baum herunter. »Wer von euch kommt jetzt rauf und macht die Magieerfassung?«
Ich natürlich. Ich bin im Wald in der Eifel aufgewachsen und schon als Kind mit meinen Freunden aus schierer Langeweile auf weit höhere Bäume geklettert. In meiner „gewöhnlichen“ Polizistinnenzeit hätte ich auf einen Hubsteiger gewartet, aber bei der KDA erledigen wir unsere Einsätze gern möglichst schnell und unkompliziert. Außerdem ist Baumklettern mit Klettergurt und Seil ein echtes Kinderspiel.
Die erhoffte tolle Aussicht – an klaren Tagen konnte man angeblich bis Berlin sehen - bekam ich leider nicht zu Gesicht, weil der VW im Weg war. Er steckte mitten im dichten Astwerk, und zwar zwischen der Kiefer und einer zweiten, die umgestürzt war und sich mit der ersten verhakt hatte.
»Sonst wäre er schon letzte Nacht runtergekracht«, sagte Elton.
Auch so hatte der Golf die Äste auf einer Seite der Baumkrone komplett abrasiert. Es roch nach frischem Holz und Harz, aber nicht stark genug, um den Gestank nach verrottetem Fisch zu überdecken, der von dem Auto ausging. Da hatten manche Leichen aus der Mosel, die ich schon erlebt hatte, besser gerochen. Als ich dann mit der Magieerfassung begann, erkannte ich mit einem kleinen Schock, dass es gar kein echter Gestank war, sondern ein starkes Vestigium. Was dieses Auto da hochgeschleudert hatte, besaß verdammt viel magische Kraft, aber anders hätte es die Karre ja auch gar nicht erst vom Erdboden wegbekommen.
»Okay«, sagte ich. »Der muss zu euch nach Wiesbaden.«
In Wiesbaden hatten die Besonderen Umstände ihr Hauptquartier samt Lagerhalle für große und sperrige Sachen, die zu „kontaminiert“ waren, um sie offen herumliegen zu lassen.
»Darf ich ihn runterholen?«, fragte Elton – zweifellos schwebte ihm vor, die beiden Bäume mittels einer kontrollierten Explosion umzumähen, weil Kettensägen was für Zivilisten sind.
»Wir brauchen ihn intakt«, sagte ich. »Die Chefin wird ihn sich auch anschauen wollen.« Und die Chefin kletterte nicht auf Bäume.
»Dann wird’s bis morgen dauern«, sagte Elton. »Weil wir erst Flaschenzüge basteln und den Tieflader herschaffen müssen.«
Die Stelle war weit genug vom nächsten Wanderweg entfernt, dass es vertretbar war, den VW da oben zu lassen, solange wir Wachen aufstellten und die örtlichen Kollegen informierten. Wir ließen ihn also, wo er war, und ich seilte mich zu Tobi ab und erstattete Bericht. Dann zwängten wir uns alle in einen von Eltons alten Mercedes Wolf und rumpelten zurück zum Basislager.
Niemand weiß so recht, wann das mit dem Mai-Picknick anfing. Tobi sagt, als er dazukam, war es schon eine feste Tradition, und Elton ist auch nicht viel länger bei der Abteilung KDA als er. Ich nehme an, die Chefin weiß es, aber wie Tobi immer sagt, wie viele Geheimnisse sie kennt, ist auch ein Geheimnis.
Wie es damit losging, ist hingegen klar.
Schon zu der Zeit, als der Brocken noch DDR-Gebiet war, scheint es dort regelmäßig seltsame Zwischenfälle in der Walpurgisnacht gegeben zu haben. Als nach der Wiedervereinigung die Minenfelder geräumt waren, wurde die Abteilung KDA zuständig, und aufgrund der Vorhersehbarkeit des Ganzen beschloss man, einfach jedes Jahr ein Bereitschaftsteam der Besonderen Umstände hinzuschicken. Das behielt man bei, auch nachdem die B.U. auf eine Einheit zusammengekürzt worden waren. Und irgendwann musste irgendjemand vorgeschlagen haben, man könnte doch, wenn man sowieso schon gemeinsam im Harz herumhing, am ersten Mai ein bisschen grillen.
Es war der erste Betriebsausflug für mich, seit ich bei der KDA war, und ich hatte angenommen, es würde im wesentlichen um Würstchen, Brot und Salate aus dem Supermarkt und ein, zwei Kästen Bier gehen. Weit gefehlt.
Schon hundert Meter vor dem Lagerplatz roch es nach Gegrilltem. Elton bog von dem Waldweg auf einen sandigen Platz ab, wo in ordentlichen Reihen mindestens zwanzig Fahrzeuge standen. Ein paar Sprinter und ein Unimog gehörten den B.U., aber der Rest waren diverse VWs, Audis und ein paar Duster, wie man sie bei jedem Betriebsausflug hierzulande finden würde.
Tobi wies mit dem Kinn auf den schwarzen A6 mit den getönten Scheiben auf dem Stellplatz gleich neben dem Fußweg zum Picknickplatz. »Die Chefin ist da.«
»Erzählst du ihr das von den englischen Füchsen?«, wollte ich wissen, während wir an dem Auto vorbeigingen.
»Erzählst du ihr das von deinem müffelnden VW?«
Ich wollte etwas Cleveres erwidern, doch da kamen wir durch eine Baumreihe hindurch, und vor uns lag die Festwiese. Es waren mindestens hundert Leute da – KollegInnen, EhepartnerInnen, Kinder, sogar ein paar Bundespolizisten in Uniform. Fünf Grills glühten auf Hochtouren, und trotz der Massen an Blatt-, Nudel- und Kartoffelsalaten in allen Varianten, dem Feta in Alufolie, dem Stockbrot und Grillgemüse hatte ich das Gefühl, dass die Sache ziemlich fleischlastig werden würde.
Elton wurde sofort von einem halben Dutzend Kinder unter Führung seiner neunjährigen Tochter belagert, die wissen wollten, was wir gefunden hatten und ob wir ihnen etwas Spannendes oder Süßes mitgebracht hätten. Perfekt vorbereitet wie immer, verteilte Elton Schokorosinen, behauptete, das wäre magischer Fledermausdreck, und forderte sie heraus, ob sie sich trauen würden, ihn zu essen. Sie trauten sich, aber etwas mulmig war ihnen schon dabei.
»Ach du Schande«, sagte Tobi plötzlich. »Da sind ja meine Eltern.«
Die beiden winkten ihm bereits von einem der Biertische aus zu, die überall auf der Wiese herumstanden. Tobi seufzte und fragte mich, ob ich Lust hätte, sie kennenzulernen. Ich sagte, ich käme gleich nach, denn gerade hatte ich die Chefin erspäht, die schwarzgekleidet am Rand des geselligen Treibens stand und mich musterte wie ein schlechtgelaunter Rabe.
Sie trug ihr „Gelände-Outfit“: schwarzer Hosenanzug, weinrote Bluse und pinke Adidas-Turnschuhe. Während ich auf sie zukam, steckte sie sich eine ihrer scheußlichen Zigaretten in den Halter und wartete auffordernd, bis ich sie ihr mit dem Feuerzeug angezündet hatte, das ich für genau solche Gelegenheiten dabeihabe.
»Also«, sagte sie. »Berichten Sie.«
Ich erstattete Bericht über den VW mit dem stinkigen Vestigium, die englischen Füchse und den gutherzigen polnischen Wolf. Ihre Miene blieb ausdruckslos, sie nickte bloß, als ich sagte, dass ich Elton gebeten hatte, den Golf so unbeschädigt wie möglich abzutransportieren.
»Gut«, sagte sie, zog ein letztes Mal an der Zigarette, behielt den Rauch besorgniserregend lange in den Lungen und stieß ihn durch die Nase aus. Dann drückte sie den Stummel in einer verbeulten alten gelben Tabaksdose aus, klappte sie zu und steckte sie wieder in die Tasche ihres Blazers.
»Wir haben Meldungen aus London und New York«, sagte sie. »Laut den Kollegen im Nachrichtensektor gibt es gewisse magisch angehauchte soziale Bewegungen, die aus Amerika zu uns zu dringen scheinen. Ich nehme an, ich muss Ihnen nicht erklären, warum das gefährlich ist.« Sie deutete mit dem leeren Zigarettenhalter auf die Picknickgesellschaft. „Wir Deutschen können fast jeder Versuchung widerstehen – außer der, dazuzugehören. Herr Winter und Sie werden in dieser Angelegenheit an vorderster Front stehen. Herr Winter ist oft übervorsichtig. Ich baue darauf, dass Sie den waghalsigen Part übernehmen.«
Mein Schreck muss sich auf meinem Gesicht abgezeichnet haben, denn sie schenkte mir ein schmallippiges Lächeln. »Ja, waghalsig«, sagte sie. »Aber selbstverständlich nur innerhalb der vorgegebenen operativen Parameter.«
ENDE