Über die ›Moments‹ von Ben Aaronovitch 

Die ›Moments‹ sind genau das – kleine Erzählfragmente, kürzer als eine Kurzgeschichte. Sie sind mir beim Arbeiten eingefallen und ich wollte sie gerne behalten. Mit ihnen entstand die Figur des Tobi Winter, der sich inzwischen als Peter Grants deutscher Gegenspieler etabliert hat. Falls Sie sich wundern: Ich habe versucht, ihm zu erklären, dass der Hund Toby heißt, aber er hat mir nicht zugehört. Sehen Sie, womit wir Schriftsteller zu kämpfen haben?
Ihr Ben Aaronovitch

Tobias Winter – Meckenheim 2012

Als die Meldung aus London kam, war ich erst seit zwei Tagen wieder in Meckenheim. Ich war im Osten in Radeburg gewesen, um ein Objekt abzuholen, das im Zusammenhang mit Fall Weiß stand und das die dortige Polizei aus einem mutmaßlichen Werwolf-Versteck geborgen hatte. Lassen Sie sich nicht von dem aufregenden Namen täuschen – so ein Auftrag läuft immer gleich ab. Ich fahre durch die Gegend, nehme ein versiegeltes Päckchen entgegen und fahre wieder zurück. Meistens kann ich mir nicht mal einen netten Abend am Zielort machen, weil die Kollegen vor Ort es echt eilig haben, mich wieder loszuwerden. Man könnte meinen, die Dinger wären radioaktiv. Sind sie aber nicht – ich habe mir anfangs mal bei der Kriminaltechnik einen Geigerzähler »ausgeliehen« und die Päckchen geprüft, bevor ich sie ins Auto legte.

Aus Form und Gewicht der Ware zu schließen, handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit um ein Tagebuch oder Rechnungsbuch. Wenn ja, würde meine nächste Aufgabe garantiert darin bestehen, die darin erwähnten Namen in unsere Datenbank einzugeben. Meine Chefin beklagte sich oft, dass die aufwendige Aufarbeitung der Nazivergangenheit uns ausbremste. Eine Menge Papierkram bescherte sie uns jedenfalls.

»Früher oder später müssen wir von dieser Obsession loskommen«, hatte sie einmal gesagt. »Wir machen es uns in der Rolle viel zu gemütlich.«

Übrigens präzisierte sie nie, wobei die Vergangenheitsaufarbeitung uns nun eigentlich ausbremste. Ich für meinen Teil wollte das auch gar nicht so dringend herausfinden. Wie mein Vater mag ich Deutschland ganz gern gemütlich und überschaubar – so ziemlich der einzige Punkt, in dem wir uns je einig waren.

Die Stelle in der Abteilung für komplexe und diffuse Angelegenheiten war nie mein Traumjob gewesen. Tatsächlich hatte ich beim Vorstellungsgespräch noch einen beherzten Versuch gemacht, mich zu disqualifizieren. Als die Chefin mich fragte, warum ich zum Bundeskriminalamt gegangen sei, erklärte ich ihr, weil die bei Cobra 11 mich nicht genommen hätten. Eigentlich hätte da Schluss sein müssen, aber stattdessen hatte die Chefin ihr furchteinflößendes Grinsen aufgesetzt. »Dann sind Sie hier genau richtig«, hatte sie gesagt.

Wenn wir nicht gerade gefährliche Artefakte herumkutschieren oder Gerüchten um besessene BMWs nachgehen (erstaunlicherweise sind es nie Mercedes), sitzen wir in Meckenheim im Büro. Ich komme gern schon um acht, damit ich eine Stunde für mich habe, bevor die Chefin und die Kollegen von der Verwaltung eintrudeln, deshalb war ich nicht gerade begeistert, als ich die Mail von der Zentralen Stelle für Kommunikationssicherheit las, es liege eine Nachricht für mich vor. Laut Vorschrift muss ich solche Dokumente persönlich abholen, also stieg ich runter in den Keller und las noch in der ZeK die Zusammenfassung der ersten Seite. Dann bat ich den diensthabenden Beamten, eine Antwort nach London zu senden.

»Können Sie denen nicht einfach selber mailen?«, wollte er wissen.

»Nicht in dieser Angelegenheit.«

Im Wartebereich der ZeK gibt es keine Stühle, also lehnte ich mich an die Wand und überflog den größten Teil des Dokuments, während ich auf Antwort wartete. Als sie kam, legte ich beides in meinen Sicherheitsaktenkoffer und nahm ihn mit nach oben.

Die Abteilung KDA war früher mal viel größer gewesen, daher gibt es auf unserem Flur im zweiten Stock eine Menge leer stehender Büros. Dass nie eine andere Abteilung versucht hatte, sie sich einzuverleiben, kann Ihnen einiges darüber sagen, welchen Ruf wir beim Rest des BKA haben.

Die Chefin stand am Fenster ihres Büros und genoss die unvergleichliche Aussicht über den Parkplatz.

»Nightingale hat einen Lehrling«, sagte ich.

Die Direktorin der Abteilung für komplexe und diffuse Angelegenheiten ist groß und schlank, mit einem langen, blassen Gesicht und roten Lippen. Am liebsten trägt sie elegante, altmodisch geschnittene schwarze Damenkostüme. Einige Kollegen sagen, sie sehe aus wie die Vorstandsvorsitzende eines Vampirkonzerns.

Ich bin schon mal einem Vampir begegnet, und hätte ich damals keinen Flammenwerfer dabei gehabt, könnte ich das jetzt nicht erzählen. Also – nein. Ich finde, sie sieht aus wie eine Frau, der ein bisschen mehr Sonne gut täte.

»Oh«, sagte sie. »Ungut. Wie gesichert ist es?«

»Die Botschaft hat’s bestätigt.«

Sie drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass ich die Tür hinter mir geschlossen hatte und niemand uns belauschen konnte. »Scheiße, Scheiße, Scheiße«, sagte sie. »Warum immer London? Ich hab schon tausendmal angemahnt, dass wir dort eigentlich ständig jemanden in der Botschaft brauchen.« Sie tippte ein paarmal mit dem langen, blutroten Fingernagel auf ihren Schreibtisch, dann warf sie wieder einen Blick zum Fenster, um zu sehen, ob der Regen aufgehört hatte.

»Nehmen Sie alles mit«, sagte sie. »Wir machen einen Spaziergang.«

Die Chefin hat eine Lieblings-Raucherecke unter den Bäumen am Ende der Hundert-Meter-Bahn. Sie raucht diese scheußlichen f6-Zigaretten, aber ich bin mir sicher, das ist nur Fassade, genau wie ihr sächsischer Akzent. Gehört alles zum Image.

»Details?«, sagte sie, während sie eine Zigarette in ihren langen schwarzen Halter steckte.

Ich fasste die Zusammenfassung zusammen. Sie unterbrach mich nur einmal – damit ich ihr die Zigarette anzündete.

»Was wissen wir über diesen Peter Grant?«, fragte sie, als ich fertig war.

»Afrikanische Mutter, englischer Vater. Ist seit zweieinhalb Jahren bei der Londoner Polizei. Die Botschaft will mir schnellstmöglich mehr Infos schicken.«

Die Chefin drückte die Zigarette an einem Baum aus und steckte sich eine neue in den Halter. »Wir hätten wirklich jemanden in London gebraucht.«

In der Bundesregierung herrschte der allgemeine Konsens, dass das Übernatürliche vollständig unter Kontrolle war und die KDA nicht mehr als ein besserer Reinigungsdienst. Das Außenministerium hätte daher niemals eine wertvolle diplomatische Stelle bewilligt, deren Beschreibung im Grunde lautete: »Da sein, falls mal was Magisches passiert.«

Nur war es jetzt passiert.

»Weiß man Genaueres über den Mord?«, fragte sie.

»Vier Morde inzwischen. Eines der Opfer war ein Kleinkind. Sie sind sich wohl ziemlich sicher, dass der Fall etwas damit zu tun hat, dass Nightingale gegen die Abmachung verstoßen hat, aber man weiß noch nicht genau, wie.«

»So viel zu ›unter Kontrolle‹«, sagte sie. »Wissen Sie, was das bedeutet?«

Wenn die Chefin im Redefluss ist, sollte man sie nicht unterbrechen, so viel weiß ich inzwischen.

»Das heißt«, sagte sie in einer Wolke aus Zigarettenrauch, »wir müssen unsere eigenen Kapazitäten entsprechend erweitern.« Mit einem Blick, bei dem mir etwas unbehaglich zumute wurde, sah sie mich an. »Herr Winter.«

»Ja?«

»Haben Sie schon mal daran gedacht, zaubern zu lernen?«

ENDE

Mehr zu Tobi Winter