Amir Gudarzi im Interview über ›Das Ende ist nah‹

Amir Gudarzis bemerkenswerter Roman ›Das Ende ist nah‹ erzählt in bewegenden Bildern vom Durchhaltewillen eines Menschen auf der Flucht. Im Interview für das dtv Lesekreisportal spricht der Autor unter anderem über die Brüchigkeit unserer Identität und auch darüber, warum despotische Regime Träume und Visionen nicht unterdrücken können.

Armut und andere Schwierigkeiten können allem Geistigen den Platz nehmen. Es ist dennoch möglich, dass das Fliegen währenddessen oder danach wieder gelingt. 

Amir Gudarzi

Olga Tsitiridou (dtv): »Ich schreibe Worten eine magische Kraft zu.« So viel Hoffnung auch in diesem Satz aufscheinen mag, er wirft zugleich die Frage auf: Gibt es einen Moment, in dem Worte ihre Kraft verlieren? Und wann tritt dieser Moment ein?

Amir Gudarzi: Ja, das ist der Moment, in dem ich nicht mehr atme. Solange ich atme, kann ich Wörter und Sätze formulieren und in diesen liegt eine magische Kraft. 

»Wenn er melancholisch wurde, stellte er sich die Frage, auf wie viele Orte seine Kindheitserinnerungen wohl verstreut sind. Erinnerungen sind immer an Orte geknüpft.« Ist es – um die eigene Erinnerung wach zu halten – wichtig, die Freiheit zu haben, an die Orte dieser Kindheitserinnerungen zurückkehren zu können? Und was passiert mit dieser Erinnerung, wenn das nie wieder möglich wäre? 

Da ich im Exil lebe und nicht an die Orte meiner Kindheitserinnerungen zurückkehren kann, weiß ich, dass Zeit immer mit Orten verknüpft ist. Wir reden über die Vergangenheit und meistens meinen wir die Orte mit. Diese Orte sind wie Krücken für unsere Erinnerung. Ohne diese Orte bleiben es lückenhafte, zusammengebastelte Erinnerungen.

Gleichzeitig ist mir wichtig zu betonen, dass es sich bei der Geschichte des Protagonisten A. nicht um meine Geschichte handelt. A. steht für Antragsteller, wie aufmerksame Leser*innen bei der Lektüre feststellen werden. 

»Ich habe mich durch mein Wissen, durch meinen Intellekt definiert, vielleicht weil ich meine soziale Herkunft verstecken wollte. Nur, wo ich durch Sprach- und Statusverlust ein Nichts geworden bin, habe ich mich verloren.« Wenn Wissen und Intellekt brüchige Pfeiler der eigenen Identität sind – worauf sollten wir uns dann bei der Suche nach uns selbst verlassen? 

Eine Identität ist etwas Brüchiges. Die Suche auf die Suche nach sich selbst ist etwas Brüchiges. Es gibt Menschen, die sich jeden Tag nach der Suche auf sich selbst machen, meinen, sich gefunden und sich am nächsten Tag wieder verloren zu haben. Wissen bleibt erhalten, obwohl man sich in einer neuen Sprache nicht artikulieren kann. Dieses Wissen ist also identitätsstiftend. Was auch immer diese Identität sein sollte … 

»Nichts will ich vergessen, nicht einmal die dreckigsten Momente meines Lebens. Die Zeit, das Leben und das Gedächtnis, sie machen, was sie wollen.« Sind wir unseren Erinnerungen einfach nur ausgeliefert? Oder schreiben wir rückblickend an der Geschichte unseres Lebens mehr mit, als uns bewusst ist? 

Ich würde sagen, es gibt hinsichtlich unserer Erinnerung einerseits ein Ausgeliefertsein, andererseits eine Mitschreibmöglichkeit, die wir oft vergessen. Wir gestalten und schreiben unsere Erinnerungen oft selbst, ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Dann werden ausgedachte Geschichten, Träume, Erzählungen aus zweiter Hand oder Bilder zu eigenen Erinnerungen. 

Wie hoch kann ein Mensch geistig »fliegen«, wenn seine Geschichte ihn mit viel Erdenschwere belastet? 

Ein knurrender, brennender Magen ist bekanntlich ein Hindernis des Denkens. Armut und andere Schwierigkeiten können allem Geistigen den Platz nehmen. Es ist dennoch möglich, dass das Fliegen währenddessen oder danach wieder gelingt. 

»Ich frage mich, wie Hungern gelingt. Kann man es musikalisch darstellen?« Welchen Klang, Herr Gudarzi, glauben Sie, hat dann der Hunger? 

Da ich musikalisch ziemlich schlecht bin, kann ich Hunger wohl nicht darstellen. Während ich über diese Frage nachdenke, vielleicht ginge es mit Orgelmusik? 

Wenn Visionen und Träume brutal unterdrückt werden, an welchen Ort ziehen sie sich dann zurück? Und wie gelingt es uns, sie irgendwann wieder zum Leben zu erwecken? 

Das größte Problem der despotischen Regime liegt darin, dass sie Träume und Visionen nicht unterdrücken können. Sie können ihre Verwirklichung verhindern, aber sie nicht unterdrücken. Deswegen schaffen Menschen es auch, in den schwierigsten Phasen ihres Lebens zu überleben. 

© Amir Gudarzi und dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG 2024. Das Interview führte Olga Tsitiridou. Zitate aus: Amir Gudarzi, ›Das Ende ist nah‹.