Ein Brief von Tom Perrotta an seine Leser*innen

Liebe Leserinnen und Leser in Deutschland, 

wer darf welche Geschichte erzählen? Inwieweit beschränkt unsere Identität unser Vorstellungsvermögen? Diese Fragen stellen sich, wenn man als Autor die Grenzen von Rasse, Klasse oder Geschlecht überschreitet. Und natürlich fragte auch ich mich bei der Arbeit an ›Mrs Fletcher‹: Darf ich – ein heterosexueller, weißer Schriftsteller –, die Geschichte einer Frau mittleren Alters erzählen, die ein sexuelles (Wieder-)Erwachen erlebt?

Foto des Autors Tom Perrotta und Buch Mrs Fetcher.

Die Tatsache, dass ich mich nicht auf gänzlich unbekanntes Terrain vorwagte, machte mir etwas Mut – zwei meiner drei letzten Bücher (›Little Children‹ und ›The Abstinence Teacher‹) drehen sich um weibliche Hauptfiguren und unverhohlen sexuelle Themen. Außerdem hatte sich das Zuhause von meiner Frau und mir, genau wie das von Mrs Fletcher, gerade in ein Empty Nest verwandelt: Die Kinder waren erwachsen geworden und ausgeflogen – unsere Tage als »richtige Eltern« schienen gezählt. Ich wusste also, wie sich das anfühlt, etwas zu verlieren, gleichzeitig aber auch neue Möglichkeiten zu bekommen.

Wichtiger aber: ›Mrs Fletcher‹ handelt davon, wie man sich selbst in eine neue Identität hineindenkt. Vordergründig erzählt der Roman die Geschichte einer geschiedenen Frau von sechsundvierzig Jahren, die herausfinden will, wie ihr Leben aussehen könnte, nachdem der Sohn zum Studium das Haus verlassen hat. Auf einer tieferen und interessanteren Ebene ist es die Geschichte einer Frau, die eine Superkraft entdeckt oder zumindest ein geheimes Ich, das ihr gesamtes bisheriges Leben auf den Kopf stellt.

›Mrs Fletcher‹ ist ein Roman über Identitäten und neue Möglichkeiten zu einer Zeit, in der Rollenbilder von Gender und Sexualität grundlegend neu definiert werden. Gleichzeitig ist es aber auch ein Buch über eine ganz normale Frau, die entdeckt, dass sie auch jemand anders sein kann. Eve Fletcher verlässt ihre passive Rolle und schafft sich selbst eine neue. Als Romanautor konnte ich mich damit sehr gut identifizieren.

Ich bin im Laufe meiner Arbeit als Schriftsteller zu der Einsicht gekommen, dass die Grenzen unserer Vorstellungskraft dazu da sind, überschritten zu werden. Diese Übertritte können riskant sein, und sie eröffnen tausend Möglichkeiten für Geschichtenerzähler, danebenzuliegen. Um das Innenleben von Eve Fletcher zu ergründen, musste ich eine dieser Grenzen überschreiten. Ich hoffe sehr, dass ich meiner Heldin gerecht geworden bin.

Herzliche Grüße, Ihr Tom Perrotta