1923 ist das Jahr der Hyperinflation, in der Angestellte die Geldscheine eines Wochenlohns mit der Schubkarre transportierten. 1923 ist das Jahr der Besetzung des Ruhrgebiets und einer heftigen Streikwelle. 1923 ist das Jahr von blutig niedergeschlagenen kommunistischen und nationalsozialistischen Aufstandsversuchen. Und es ist das Jahr radikaler Gegensätze zwischen bitterer Armut einerseits und einer orchideenhaft blühenden Unterhaltungskultur. 1923 ist in seiner Ambivalenz das Ende der Nachkriegszeit und der Auftakt zu den Goldenen Zwanzigerjahren der Weimarer Republik. Christian Bommarius setzt das Panorama eines Jahres der Extreme durch eine Vielzahl meisterhaft erzählter Geschichten und Porträts zusammen.
1. Auflage
Christian Bommarius, Jahrgang 1958, studierte Germanistik und Rechtswissenschaft. Nach journalistischen Stationen, etwa als Korrespondent beim Bundesverfassungsgericht, war er von 1998 bis 2017 Redakteur der ›Berliner Zeitung‹, anschließend Kolumnist der ›Süddeutschen Zeitung‹ und ist seither freier Publizist. Für sein publizistisches Werk wurde Bommarius der Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste Berlin ausgezeichnet.
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"Tanz auf dem Vulkan" ist eine der Zuschreibungen der deutschen Gesellschaft in den 1920-er Jahren, und das Buch "Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923" von Christian Bommarius macht schnell klar, warum das so ist. In monatlich gegliederten Kapiteln beschreibt der Autor in Geschichte und Geschichtchen das Jahr der Hyperinflation, des Elends auf der einen und des exzessiven Rauschs auf der anderen Seite, von einer blühenden, wilden Kultur, die vieles althergebrachte in Frage stellte, und denen, die die alte Ordnung wiederherstellen wollten. Der Erste Weltkrieg liegt gerade mal fünf Jahre zurück, die Folgen sind für die deutsche Bevölkerung oft schmerzlich spürbar. Bis die Nationalsozialisten an die Macht kommen, wird es noch zehn Jahre dauern. Doch nicht nur Hitlers gescheiterter Putsch im November ist als Zeichen an der Wand zu sehen. Schilderungen von schwarzer Reichswehr, von Freikorps, von Antisemitismus und Verherrlichung des alten Militarismus machen klar, dass nicht nur der Kaiser im niederländischen Exil auf andere Zeiten hoffte. Geschrieben in anekdotenhaften Stil, mitunter leicht kalauernd ("Die Deutschen schwimmen nicht nur in Geld, sie ertrinken darin") oder aus heutiger Sicht mit ironischen Seitenhieben ("Flughäfen bauen, das können die Berliner", tauchen nicht nur bekannte Namen aus der Politik auf, sondern auch aus Kultur und Gesellschaftsleben, ob Hans Fallada oder Thomas Mann, George Grosz oder Max Reinhardt, die junge Marlene Dietrich oder der sterbenskranke Frank Kafka mit seiner letzten Liebe. Auch Anita Berber, Femme Fatale und Nackttänzerin darf als Symbol von Rausch, Dekadenz und sexueller Freiheit und Freizügigkeit nicht fehlen. Wer beim Serien-Binging sehnsüchtig auf den nächsten Teil von "Babylon Berlin" wartet, wird so manches Vertraute wiederfinden, historisch Interessierte finden am Beispiel des Jahres 1923 ein Zeit- und Sittenbild, das eingängig zu lesen und auf unterhaltsame Weise informativ ist. Es schadet sicherlich nicht, zumindest ein bißchen Vorkenntnisse über die Weimarer Republik und Politik, Wirtschaft und Kultur der Zeit zu haben. Ansonsten dürfte das ausführliche Personenverzeichnis am Ende des Buches manche Wissenslücke schließen und das Buch verständlicher machen. "Im Rausch des Aufruhrs" ist gut geschriebenes Infotainment einer spannenden Zeit, in der den einen noch alles möglich schien und die anderen vor dem Nichts standen.
Das Titelbild des Umschlags will nicht recht zum thematischen Schwerpunkt des Buchs passen. Es zeigt ein junges Paar in Ausgehkleidung beim Tanz. Er trägt Monokel, sie ein im Rücken tief ausgeschnittenes Kleid. Das Titelbild erinnert so an das Bild, das man sich von den „goldenen Zwanziger“ des vorigen Jahrhunderts macht: Menschen auf der Suche nach einer neuen Lebensform, die insbesondere Freiheit von den bürgerlichen Zwängen verspricht. Tatsächlich spielt dieser Aspekt in der Darstellung des Jahres 1923 von Christian Bommarius aber eine untergeordnete Rolle. Ihr Schwerpunkt ist vielmehr die Darstellung der Ereignisse, die letztlich in die Katastrophe der Machtübernahme durch die Nazis 1933 münden: die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen, die Hyperinflation, der Kampf der Kommunisten und Nazis gegen die ungeliebte Republik, Arbeitslosigkeit, Streiks, Judenhass. Das Jahr 1923 ist vorzüglich geeignet, wie in einem Brennglas diese Voraussetzungen der Machtübernahme deutlich zu machen. Brommarius entwirft ein Mosaik des Jahres 1923. Die einzelnen Steine des Mosaiks sind eine Vielzahl meist kurzer Erzählungen vor allem über Personen des Zeitgeschehens, aber auch über politische Ereignisse. Aufgabe des Lesers ist es, die kleinen Steinchen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Und diese Aufgabe macht ihm Brommarius nicht immer leicht. Viele dieser Erzählungen sind so voraussetzungsreich, dass sie in der Kürze der Darstellung ohne das entsprechende Hintergrundwissen kaum nachvollziehbar sind. Beispiel: Der kläglich gescheitertere Putschversuch von Hitler in München im November wird auf zwei Seiten abgehandelt. Oft bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als die Hintergründe selbst zu recherchieren. Dann aber wiederum gibt es Passagen, die auf sehr prägnante Weise die Zeitumstände deutlich machen: „Alles ist in Bewegung, die Preise aber bewegen sich nicht - sie explodieren. Der Zweckverband der Groß-Berliner Bäckermeister gibt bekannt, dass die Preise für Mehl in den vergangenen zehn Tagen um 120 Prozent gestiegen sind. Ein Brot kostet 2200Mark (…) Wie soll man da leben? Man soll ja auch nicht. Die Berliner Polizei teilt mit, acht Berliner hätten sich in den vergangenen Tagen in ihren Wohnungen mit Gasvergiftungen getötet. Der Grund für die Suizide war Angst vor dem Verhungern.“ Dieser Eintrag stammt vom Februar. Im Dezember wird das Brot 399 000 000 000 Mark kosten. Auch von der Unterhaltungsindustrie berichtet Brommarius, zeigt aber auch hier weniger den Glanz als das Elend. Beeindruckend seine Darstellung der skandalträchtigen Nackttänzerin Anita Berber, die nach exzessivem Alkohol- und Drogenkonsum mit 29 Jahren an Tuberkulose stirbt. Dankenswerterweise hat das Buch einen ausführlichen Anhang mit Kurzbiografien der in der Darstellung erwähnten Personen, mit Quellenangaben und einem Personenregister. Gerade letzteres zeigt aber noch einmal eine gewisse Schwäche des Buchs: Es werden ca. 300 Personen genannt, da ist es schon nicht leicht, den Überblick zu wahren. Eine Leseempfehlung für diejenigen, die sich für Geschichte interessieren und über entsprechende Kenntnisse verfügen.
Pressestimmen
Deutschlandfunk Kultur, Lesart
Zwölf Monate in zwölf Kapiteln, gut lesbar und anekdotenreich erzählt.
Florian Felix Weyh, 05.01.2023
P.M. History
Der Autor zeichnet anhand berührender Schicksale ein pointiertes Panorama, aufgeteilt in zwölf Monat...skapitel. mehr weniger
01.07.2022
heribertprantl.de
Es ist keine Aufzählung von Daten und Ereignissen, es ist kein erweiterter Kalender, es ist auch meh...r als eine Collage; es ist ein raffiniertes literarisches Werk über ein wahnsinniges Jahr. mehr weniger
Heribert Prantl, 24.04.2022
Deutschlandfunk, Andruck
Das Jahr 1923 markierte das Ende der Nachkriegszeit und den Beginn der Goldenen Zwanzigerjahre, in s...einer ganzen Ambivalenz ›im Rausch des Aufruhrs‹ glänzend beschrieben. mehr weniger
Annette Wilmes, 11.04.2022
Süddeutsche Zeitung
Was Bommarius auszeichnet, sind die zahllosen funkelnden Details, die seiner akribischen Archivreche...rche zu verdanken sind. mehr weniger
Robert Probst, 04.04.2022
General-Anzeiger
Christian Bommarius beschreibt das deutsche Schicksalsjahr 1923 in kunstvollen Miniaturen. Nach der ...Lektüre staunt man, dass die Republik bis 1933 durchhielt. mehr weniger
Martin Wein, 26.03.2022
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Das Eingehen auf diese Einzelschicksale fügt sich im Ganzen zu einer sozialgeschichtlichen Analyse, ...die die daraus resultierende Anfälligkeit für Gewalt und Extremismus erhellt. mehr weniger
Philip Schäfer, 22.03.2022
hr2 kultur, Am Nachmittag
In seinem Buch ›Im Rausch des Aufruhrs‹ hat Christian Bommarius das Panorama eines Jahres der Extrem...e durch eine Vielzahl meisterhaft erzählter Geschichten und Porträts zusammengesetzt. mehr weniger
16.03.2022
Buchkultur
Bommarius, langgedienter Zeitungsjournalist, schreibt ausnehmend gut. Plastisch erzählt er das Kalei...doskop dieses einen Jahres, pointiert, informiert wie informativ. mehr weniger
01.07.2022
Lesart
Dabei ist es großartig geschrieben und dank überschaubarer Kapitel samt Bildtafeln – bei aller Schre...cklichkeit der Ereignisse – ein Lesevergnügen. mehr weniger
Matthias Schürmann, 01.06.2022
Nürnberger Nachrichten
In dem Buch steckt so viel perfekt arrangiertes Wissen, dass es niemals langweilt und dass man ihm v...iele Leser wünscht. mehr weniger
Andre Fischer, 31.05.2022
denglers-buchkritik.de
›Im Rausch des Aufruhrs‹ ist voll von vielen kleinen Geschichten in der so großen Welt der gesellsch...aftlichen und politischen Ereignisse. Das Buch swingt! mehr weniger
Alex Dengler, 23.05.2022
Frankfurter Rundschau
Der Erzähler Bommarius ist also immer da. Aber er ist umgeben von anderen, die ihre Geschichten erzä...hlen. mehr weniger
Arno Widmann, 19.05.2022
Badische Neueste Nachrichten
Es sind viele berührende und verrückte, schön erzählte Geschichten.
11.05.2022
diebedra.de
›Im Rausch des Aufruhrs‹ [ist] ein faktensattes, mit ausführlichen Quellenangaben versehenes Geschic...htswerk, das man gerne liest und sicher gerne wieder zur Hand nehmen wird. mehr weniger
Petra Breunig, 28.04.2022