Vom anstrengenden Nachtleben der Hasen und Eichhörnchenparadiesen
Da müssen wir ein bisschen ausholen. Also: Bei kleinen finnischen Holzhäusern liegt der Schnee- und Elchverdacht natürlich nahe; wir können aber nur mit Schnee dienen, besser gesagt, mit einer narbigen Kruste Altschnee, auf die es erst in der kommenden Nacht neu schneien wird. Für Elche müssten wir einen knappen Kilometer nordostwärts ziehen, wo wir über weite sumpfige Felder auf den Rand eines ausgedehnten Waldgebietes schauen würden.
Das ist das eine. Das andere ist, dass unser Blick aus dem Fenster für um die 19 Stunden am Tag mehr ein Blick in den Spiegel ist, in dem wir uns selbst von schräg oben angeleuchtet am kombinierten Ess-/Arbeitstisch sitzen sehen. Jetzt gerade ist es 12.30 Uhr und hell, aber Sonnenaufgang war heute – wir schreiben Sonntag, den 19. Dezember – um 9.26 Uhr, Sonnenuntergang ist um 15.08 Uhr.
Und jetzt zum Blick: Wir schauen ziemlich genau nach Süden über einen kleinen Entwässerungsgraben hinweg auf das Wintergerippe einer Hecke, die unser einstöckiges Häuschen um einiges überragt. Als wir im September hier eingezogen sind, war es wie eine grüne Wand; jetzt unterscheiden wir – zwischen den Stämmen bis zu hundert Jahre alter Kiefern und etwas jüngerer Birken – Weiden, Ebereschen und Espen. Schon das wäre ein toller Tummelplatz für Eichhörnchen, aber vom verwilderten Garten des verlassenen Nachbarhauses her streckt auch noch ein störrischer alter Apfelbaum seine Äste ins Dickicht, und da niemand mehr seine Äpfel erntet, hängen die jetzt tiefgefroren am Baum und machen aus dem tollen Eichhörnchentummelplatz ein Eichhörnchenparadies. Auch Elstern, Eichelhäher und Krähen wissen die kalten Äpfel zu schätzen, und damit die schwächeren Meisen, Spatzen und so weiter nicht zu kurz kommen, haben wir einen kleinen Gitterkäfig in den Baum gehängt, den wir alle paar Tage mit Meisenknödeln füllen. Für die interessieren sich die größeren Vögel und Eichhörnchen zwar auch, aber wir waren schlau und haben, nachdem uns zu Anfang abwechselnd Elstern und Eichhörnchen die zum Aufhängen benutzte Kordel durchgenagt und den Käfig gemütlich unten auf dem Boden leer gefressen haben, bissfeste Angelschnur gekauft. An der scheitern seitdem alle noch so wilden Zupf- und Rupfversuche, und selbst der fabelhaft geschickte Silberrücken des die Hecke beherrschenden Eichhörnchenclans schafft es immer nur für Sekunden, sich daran festzuklammern. Gerade eben hat er wieder eine Schar Blau- und Kohlmeisen verscheucht, aber die wissen schon, dass sie nicht lange warten müssen, bis der Macker abstürzt und für eine Weile bedient ist.
Ausnahmsweise verpasst haben wir nach einem langen Samstagabend den Buntspecht, der morgens immer als Erster kommt und sich an den Knödeln so satt frisst, dass es bis zum nächsten Sonnenaufgang reicht, und auch den regelmäßig anfliegenden und wie eine Weihnachtskugel aus dem Schnee leuchtenden Dompfaff haben wir heute noch nicht gesichtet. Wer aber da ist und stoisch seinen Puschel gegen einen in der Hecke vor sich hin modernden Baumstumpf drückt, ist unser Stammhase. Wir nennen ihn so, weil er auch schon Kumpels (oder Freundinnen?) mitgebracht hat, die mit ihm den Tag in der Hecke verdöst haben, aber am nächsten Morgen war immer nur er wieder zurück – vielleicht, weil die Kumpels (oder Freundinnen?) sauer waren, dass er ihnen nie seinen windgeschützten Platz überlassen wollte. In jedem Fall wissen wir jetzt, dass Hasen – es handelt sich hier um richtige mit langen Ohren und noch längeren Hinterläufen, nicht etwa um Kaninchen – ein anstrengendes Nachtleben haben müssen, denn in der Zeit, in der wir ihn sehen können, sitzt unser Freund so still, dass wir uns anfangs schon gefragt haben, ob es wohl Orte gibt, an die sich alte Hasen zum Sterben zurückziehen, und ob unsere Hecke wohl so ein Ort ist. Erst eine nächtliche Kontrolle mit der Taschenlampe hat uns da beruhigt.
Jetzt ist es Ende April, und wir haben nachgefragt: Sind noch alle in der Hecke da?
Ja. Was vielleicht daran liegt, dass wir einen auch für finnische Verhältnisse langen, fast immer gleichen Winter haben. Seit ein paar Tagen tropft es zwar von den Zweigen, und vom Dach gehen kleine Lawinen ab, aber wir schauen immer noch in eine Winterlandschaft, und das Schöne ist, dass wir es inzwischen dreizehn Stunden lang tun können. – Vielmehr wäre es schön, stünde nicht auf dem Fensterbrett das Radio.